Seit 1974 lehrt und forscht die Fakultät Ressourcenmanagement der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen rund um das Thema Wald. Zum 40-jährigen Jubiläum wagen Forstwirtschaftler bei einer Waldwanderung zusammen mit 30 interessierten Bürger/inne/n einen Blick in die Vergangenheit des Göttinger Waldes. Eine Vergangenheit, die sehr weit zurückliegt – im Fokus steht das Mittelalter.
Gefahr liegt in der Luft. Schmuggler, Diebe und Feinde der Stadt bedrohen Göttingen und die anliegenden Ortschaften. Ein Vorteil hat nur derjenige, der weit gucken kann. Darum ist die Alarmanlage rund zehn Meter hoch. Die Roringer Warte, von der aus nach feindlichen Aktivitäten Ausschau gehalten wurde, stammt vom Anfang des 15. Jahrhunderts und steht noch heute. Nahe der B 27 reckt sich der Wehrturm aus gemauertem Bruchstein in die Höhe und erzählt von vergangenen Zeiten, als feindliche Truppen noch auf Städte zumarschierten und keine Kommunikationssysteme wie Telefone oder Fernsehnachrichten die Stadtbewohner warnen konnten.
Eine öffentliche Waldwanderung in den Göttinger Wald als „Zeitreise ins Mittelalter“ leiten die Forstwirtschaftler Prof. Dr. Wolfgang Rohe und Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Thren. Anlass ist das 40-jährige Jubiläum der HAWK Fakultät Ressourcenmanagement, das mit unterschiedlichen Festveranstaltungen gefeiert wird.
Begonnen hat die Fakultät Ressourcenmanagement als kleine Lehranstalt mit gerade einmal 15 Studenten, die allesamt Förster werden wollten. Noch heute ist Fakultät zentraler Ausbildungsort für Förster/innen der nördlichen Bundesländer. Das ist auch deswegen bezeichnend, weil der Berufsstand des Försters in Göttingen eine gewisse Tradition hat. „Göttingen ist eine der ersten Städte überhaupt, die einen Förster eingestellt haben“, erzählt Forstwirtschaftler Rohe. Rund 30 Interessierte folgen der Einladung zur öffentliche Waldwanderung. Auch die Göttinger Abiturientin Sarah Martin ist dabei. „Ich finde Bäume halt toll. Ich gucke mir das gerne an“, sagt die junge Frau. Die Roringer Warte ist die erste Station der Wandergruppe.
„Wo wir jetzt stehen, da verlief in dieser Zeit eine Straße“, sagt Thren und erzählt, dass der Turm nicht nur als Beobachtungspunkt, sondern auch als Zollstelle genutzt wurde. Zu diesem Zweck sei eine Schranke an der Warte angebracht worden, die heute allerdings nicht mehr erhalten sei. Eine kleine Nische im Mauerwerk weist aber darauf hin, wo die Sperre angebracht war. Es sind Details wie diese, die die Geschichte fassbar machen.
„Was bringt einen Forstwirtschaftler ausgerechnet dazu, sich mit Forsthistorie zu beschäftigen?“, fragt Thren in die Runde. Wälder seien wertvolle Bewahrer von Kulturstätten, lautet seine Antwort. Spuren längst vergangener Tage lassen sich noch heute in den Wäldern finden und bieten einen Eindruck vom Leben und vom Alltag damals. Es sei wichtig, diese Spuren zu erhalten, findet Thren. Den Blick von angehenden Förstern für diese Überreste aus der Vergangenheit zu schärfen und damit für ihre Erhaltung zu sensibilisieren sind die Gründe, warum Forsthistorie an der HAWK gelehrt wird. Kein bloßer Theorieunterricht, erzählt Thren. So seien Studierende eigens zur Vorbereitung der Waldwanderung in den Göttinger Forst gegangen und hätten Teile der mittelalterlichen Wege von eingewachsenem Gestrüpp freigelegt.
Nicht nur die Vergangenheit steht im Fokus der Waldwanderung, sondern es werden auch aktuelle Zusammenhänge thematisiert. Warum die Forstwirtschaftler über Insekten nicht mehr von Nütz- oder Schädlingen sprechen zum Beispiel. „Wir sagen, alle Insekten gehören zum Wald“, stellt Rohe klar und ergänzt, „aber wir wollen ein Gleichgewicht.“ Das steuere man beispielsweise durch einen durchdachten Aufbau des Waldrandes, der sowohl Insekten als auch Insektenvertilgern wie Fledermäusen einen Lebensraum bietet, erzählt der Experte. Auch das neuerliche Auftauchen von großen Wildtieren kommt zur Sprache. Ein Zusammenleben zwischen Mensch und Wildtier wie dem Wolf kann gelingen, aber dazu braucht es Aufklärung und Regeln, findet Rohe.
Der Wald ist ein guter Ort, um über Zeit zu reden, das wird bei der Waldwanderung deutlich. Immer wieder stößt die Gruppe auf Details aus der Vergangenheit. Zum Beispiel auf aneinandergereihte Wölbungen im Boden. Thren erklärt, es handle sich um typische Wölbäcker, eine Form mittelalterlicher Ackerbebauung, deren Form sich aus der Benutzung einseitig werfender Pflüge ergibt.
Ein besonderes Highlight zeigt Thren am Ende der Wanderung. Auf einem Abschnitt des mittelalterlichen Königsweges, der an einer Seite von Felsen begrenzt wird, habe er sich bei einer Exkursion mit Studierenden auf die Suche nach horizontalen Spuren im Stein begeben. Königswege sind Pfade auf denen mittelalterliche Herrscher mit ihrem Gefolge reisten. Ohne schnelle Kommunikationsmedien konnte ein Territorium damals nur schlecht zentral regiert werden. Darum reisten die Herrscher von Pfalz zu Pfalz auf Wegen, die im Göttinger Forst heute noch zu sehen sind. Gefunden haben Thren und seine Studierenden diese Rillen, die von den Radnaben der Wagen stammen sollen, allerdings nicht. Dafür aber andere Furchen im Fels, die eindeutig von Menschenhand gemacht worden seien, so Thren. Des Rätsels Lösung: Es handelt sich um Felsabschläge, vermutlich gehauen mit Hammer und Meißel, die den Zweck haben, den Weg zu verbreitern. Ein Detail, das man auf dem ersten Blick leicht übersieht, das aber viel vom dem erzählt, wie und unter welcher Mühsal früher gelebt wurde. „Besonders interessant fand ich, die Gänge zu sehen und wie sie freigelegt wurden“, sagt Sarah Martin über die Königswege. Sie interessiere sich schon lange für das Mittelalter. Trotzdem habe sie viel Neues und Spannendes auf der Wanderung entdecken können.
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